"Das kann den Ertrag einer Apotheke halbieren"
Gemeinsam mit der Ärzteorganisation IG Med hat der Verband „Freie Apothekerschaft“ in einem Brandbrief an die Politik dringende politische Maßnahmen gefordert, um das Gesundheitswesen in Deutschland zu verbessern. Ein problematischer „gesetzgeberischer Wildwuchs“ treibe Praxen und Apotheker an den Rand der Erschöpfung. Ob Regresse, Retaxation oder Zuzahlungen bei Patienten: Unter dem Deckmantel der „wirtschaftlichen Verordnung“ nutzten die Krankenkassen jeden bürokratischen Hebel, um Geld abzuziehen und die Leistungserbringer im System zu drangsalieren. Den kompletten Brief finden Sie hier. Der änd sprach über das Thema mit Daniela Hänel, der Vorsitzenden der Freien Apothekerschaft.

Frau Hänel, die Freie Apothekerschaft hat gemeinsam mit der IG Med einen Brandbrief an die gesundheitspolitischen Entscheider in der Regierung verschickt. Wie ist es zu diesem Schulterschluss gekommen?
Es bestanden bereits Kontakte über die sozialen Medien, zum Beispiel über eine Facebook-Gruppe zur Berufspolitik. So kam es zum Dialog mit der IG Med.
Schauen wir einmal auf die einzelnen Vorgänge rund um die Abgabe von Arzneimitteln an Patienten. Aus der Ärzteschaft kommt seit langer Zeit Kritik an den Arzneimittelregressen, die Prüfstellen gegen die Praxen aussprechen können. Wie bewerten Sie diesen Mechanismus aus der Sicht der Freien Apothekerschaft?
Die Behandlung von Patienten wird ärztlicherseits sicherlich immer zum Vorteil des Patienten vorgenommen. Oft stehen dem die monetären Interessen der Krankenkassen entgegen – nämlich möglichst wenig Geld für den Versicherten auszugeben. Es immens schwierig, sämtliche gesetzlichen Vorgaben in eine Behandlung einzubeziehen, dann käme unter Umständen eine dringend benötigte Behandlung gar nicht erst zustande. Der Patient würde ins Krankenhaus überwiesen und noch mehr Kosten verursachen. Die Prüfstellen sehen das aus der Sicht der Krankenkassen, Objektivität darf da bezweifelt werden.
In den Apotheken wird hingegen das Thema „Null-Retax“ häufig diskutiert. Vielleicht können Sie noch einmal genau erklären: Was hat es damit auf sich – und warum ist das ein Problem?
Nullretax bedeutet, dass die per ärztlicher Verordnung aufgeschriebenen Arzneimittel komplett nicht bezahlt werden, obwohl der Patient korrekt mit dem Wirkstoff versorgt wurde. Die Kassen begründen das mit Formfehlern. Da geht es schon mal in die zig Tausende und kann den Ertrag einer Apotheke halbieren.
Zur Erklärung: Der Großteil einer Verordnung, nehmen wir mal 1.000 Euro, ist der Anteil der Pharmaindustrie. Die Apotheke erhält nach Abzug des Kassenabschlags 6,77 Euro – egal wie teuer das Arzneimittel ist – und eine Handlingsgebühr von 3 Prozent des Einkaufspreises.
In erster Linie geht es bei der Retaxation um formelle Fehler bei der Verordnung des Arztes, die man schon mal übersehen kann, aber auch wenn wir nicht alle handschriftlichen Begründungen auf dem Rezept angegeben haben, zum Beispiel wenn wir den Rabattartikel aus diversen Gründen nicht abgegeben haben. Das kann wegen pharmazeutischer Bedenken sei, weil das Arzneimittel vom Hersteller nicht lieferbar ist oder weil es kein preisgünstigeres Produkt gab.
Wir zahlen das Arzneimittel komplett für den Patienten. Wir bekommen nicht mal den Einkaufspreis erstattet – obwohl wir das Arzneimittel für den Patienten eingekauft haben. Und die Umsatzsteuer wurde von uns auch schon abgeführt, da die Retaxationen bis maximal 2 Jahre nach Abgabe an den Patienten seitens durch die Krankenkassen möglich ist.
Könnte es Ihrer Meinung nach passieren, dass beide Mechanismen – der Regress beim Arzt und das Verweigern der Bezahlung der Apotheke – zusammen vorkommen?
Es kann aus unserer Sicht durchaus passieren, dass beide Mechanismen zusammen vorkommen. Zum Beispiel, wenn der Arzt ein Arzneimittel verordnet, welches nur bei bestimmten Diagnoseschlüsseln zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet werden darf. Der Arzt vergisst einen „Schlüssel“ und die Apotheke beachtet bei der Abgabe nicht die Importquote oder die Rabattverträge und gibt das Arzneimittel ohne handschriftliche Begründung ab.
In Ihrem Brief bemängeln Sie auch problematische Vorgänge rund um die Zuzahlungen der Patienten und auch beim Thema Rabattverträge. Was stört Sie da genau?
Die Lieferverträge werden für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren geschlossen. Oft wird zum Beispiel bei großen Krankenkassen für einen Wirkstoff nur ein Hersteller ausgewiesen, der dann ganz Deutschland beliefern soll. Da sind Probleme vorprogrammiert, so dass nach kurzer Zeit dieser Hersteller nicht mehr liefern kann.
Das Aussuchen eines Ersatzprodukts nimmt in der Apotheke enorm viel Zeit in Anspruch, die nicht vergütet wird. Oft genug müssen Patienten von einer Apotheke zur anderen laufen, um zu schauen, ob das Arzneimittel eventuell dort vorrätig ist. Denn wenn die Großhandlungen in Berlin nicht liefern können, können es auch nicht die in Köln oder München. Ein globales Problem.
Wenn ein Arzneimittel einen bestimmten Festpreis unterschreitet, entfällt die Zuzahlung. Wenn aber wie beschrieben das Mittel nicht mehr zu bekommen ist, muss die Apotheke auf ein anderes Mittel mit einem um wenige Cent höheren Preis ausweichen – was aber gleichzeitig dazu führt, dass der Patient eine Zuzahlung von 5 oder 10 Euro leisten muss. Da sparen die Krankenkasse richtig Geld.
Im Juni 2007, als die Rabattverträge eingeführt wurden, waren sehr viele Arzneimittel, die als Rabatt-Arzneimittel abgegeben werden sollten, von der Zuzahlung befreit. Das hat sich im Laufe der Jahre leider geändert. Die Festbeträge wurden weiter abgesenkt. Dadurch war die Spanne nicht mehr da, um die vielen Arzneimittel weiter zuzahlungsfrei zu lassen. Die Hersteller hätten noch weiter die Preise unter den jeweiligen Festbetrag absenken müssen. Aber irgendwann ist alles finanziell ausgereizt.
Bei der verpflichtenden Abgabe der Rabatt-Arzneimittel sehen wir täglich, was diese Arzneimittel normalerweise kosten, wie hoch die Zuzahlung ist. Aber Niemand weiß den Herstellerrabatt. Das wird komplett geheim gehalten!
Was fordern Sie von der Politik? Welche Strukturreformen müsste der Bundesgesundheitsminister einleiten?
Unser Forderungen an die Politik betreffen unter anderem die Struktur der GKV: Wir fordern eine Reduzierung der aktuell 97 Krankenkassen inklusive eigenem Management, die Abschaffung jeglicher Werbemaßnahmen für Krankenkassen in Fernsehen, Printmedien oder Sportveranstaltungen. Auch müssen die Verwaltungskosten gesenkt und sämtliche Kostenstrukturen durch das Wirtschaftsministerium durchleuchtet werden.
Weiterhin sollten unbedingt die Unternehmen in Deutschland unterstützt werden: die Vor-Ort-Apotheken, die hier sowohl Steuern als auch die Sozialbeiträge zahlen. Online-Arzneimittel-Versender, wie DocMorris und Shop-Apotheke sind in den Niederlanden angesiedelt. Dort erfolgt übrigens kein Arzneimittelversand innerhalb „Hollands“. Es ist verboten. Aber nach Deutschland wird versendet! Jeder Euro, der zu diesen Versandlogistikern abgeführt wird, fehlt in unserem Land. In den Niederlanden gibt es keine Mehrwertsteuer auf Arzneimittel, damit ist es preisgünstiger. Weiterhin erfolgen keine Kontrollen durch Aufsichtsbehörden. Die Niederlande fühlen sich nicht zuständig und Deutschland prüft nicht im Ausland. Wir sprechen über eine Art rechtsfreien Raum.
Wir übernehmen dagegen vor Ort Gemeinwohlpflichten wie Nacht- und Notdienst, die Herstellung individueller Arzneimittel, Betäubungsmittel, Begleitung von Substitutionstherapie etc. Die Versender sind wortwörtlich Rosinenpicker. Eine aktuelle Gefahr sehen wir auch bei Unternehmen wie ZAVA und TeleClinik: Patienten suchen sich ihre Arzneimittel auf den entsprechenden Internetseiten aus, das elektronische Rezepte wird parallel dazu über diese Anbieter eingelöst und die Arzneimittel ohne Beratung und ärztliche Kontrolle anonym nach Hause versendet – gegen Gebühr selbstverständlich. Dem muss Einhalt geboten werden.
Sollten sich keine politischen Veränderungen abzeichnen. Wir die Freie Apothekerschaft weitere öffentlichkeitswirksamen Aktionen unterstützen?
Weitere Aktionen werden wir in jedem Fall unterstützen. Dazu stehen wir im weiteren Austausch – auch mit ärztlichen Organisationen wie der IG Med.