„Der eMP wird so nicht funktionieren“
Zum 15. Juli 2025 sollen der digital gestützte Medikationsprozess (dgMP) sowie Zusatzinformationen, die für eine Prüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit notwendig sind (AMTS-rZI), im Rahmen der elektronischen Patientenakte scharfgeschaltet werden. Die Gematik hat vor wenigen Tagen Spezifikationen dafür veröffentlich. Nach einer eingehenden Analyse zeigte sich IT-Berater Mark Langguth allerdings im Gespräch mit dem änd überzeugt, dass ein nach diesen Vorgaben gebauter eMP nicht funktionieren wird. Es bestehe sogar ein Risiko für die Patientensicherheit, warnte er.
Herr Langguth, die Gematik hat am 15.07.24 die neuen Vorgaben zur ePA 3.1 vorab-veröffentlicht. Diese enthalten die Festlegungen zum digital gestützten Medikationsprozess (dgMP) sowie Zusatzinformationen, die für eine AMTS-Prüfung notwendig sind (AMTS-rZI). Sie haben einen intensiven Blick reingeworfen. Wie fällt ihr Fazit aus?
Was an Spezifikationen geliefert wurde, ist leider voll mit kleinen, mittleren und großen Problemen und aus meiner Expertise heraus qualitativ deutlich schwächer als das, was wir zuletzt von der Gematik zur ePA gesehen haben. Es spricht nichts dagegen, im Feld neue Funktionen einzuführen und die bestehenden weiter zu verbessern. Es darf aber nie dazu führen, dass Daten durch Systemkonzeption verloren gehen oder verfälscht werden. Das ist aber mit den aktuellen Spezifikationen der Fall. Wenn der elektronische Medikationsplan in dieser Form tatsächlich umgesetzt wird, bestehen Risiken für die Patientensicherheit! Deshalb müssen die Spezifikationen aus meiner Sicht unbedingt angepasst werden.
Sie haben in Ihrer Analyse kleinere, mittlere und schwerwiegende Probleme festgestellt. Fangen wir mit den kleineren und mittleren an. Können Sie mir ein paar Beispiele dafür nennen?
Zu eher weniger schwerwiegend Punkten gehört sicherlich, dass nach bestimmten Informationen nicht gesucht werden kann, weil die Gematik die Suchparameter dafür nicht festgelegt hat. Das ist ein kleines Detail, das aber natürlich im ärztlichen Alltag eine Rolle spielt.
Ein deutlich ärgerlicheres Problem besteht da schon im Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapie-Sicherheitsprüfung. So muss ein Arzt die in der ePA in AMTS-rZI hinterlegten Daten zu Allergien, Intoleranzen & Co. händisch und einzeln dem Medikationsplan zuordnen – obwohl natürlich alles gemeinsam in einer Datenbank hinterlegt ist. Da frage ich mich, warum? Erstens ist das ein zusätzlicher Arbeitsschritt, dessen fachliche Notwendigkeit sich mir nicht erschließt. Zweitens kann so etwas natürlich dazu führen, dass eine vorliegende Allergie eben nicht dem Medikationsplan zugeordnet und dann möglichweise bei einer Arzneimitteltherapieprüfung nicht berücksichtigt wird.
Dann führt das Überarbeiten bzw. „Aufräumen“ eines eMP durch einen Arzt mit – sagen wir – zehn Änderungen an einzelnen Feldern mitunter zu zehn dokumentierten Versionen des eMP. Ferner können versehentlich hinzugefügte Einträge nicht gelöscht werden. Versehentlich eingetragene Medikamente – auch solche mit potentiell stigmatisierenden Effekten – können nur mit „entered-in-error“ gekennzeichnet werden, was zu Folgeproblemen führen wird, wenn dieses „Flag“ übersehen oder nicht ausgewertet wird. Das ist bereits in den Gematik-eigenen Vorgaben der Fall, weil in der durch die ePA selbst zu erstellenden Übersicht der Medikationsliste diese Kennzeichnung nicht als Filter herangezogen wird und somit solche Fehler-Einträge als „so verordnet“ ausgegeben werden.
Ein weiteres Beispiel: Medikationsinformationen – wie Chargennummer, Verfallsdatum, Datum des Medikationseintrags –, die die Apotheke ja im Moment der Dispensierung hat, werden beim Übertrag in die ePA automatisch gelöscht, obwohl sie etwa bei einem Chargenrückruf hilfreich sein können. Die Liste ließe sich noch mit einigen Beispielen füllen.
Kommen wir zu den schwerwiegenderen Problemen. Wie definieren Sie diese im Übrigen?
Die Differenzierung zwischen schwer und mittel ist natürlich fließend. Für mich als Patient, Pflegender und Informatiker ist ein Problem bei einem Medikationsplan dann schwerwiegend, wenn ich durch dieses Problem damit rechnen muss, das Patientenwohl zu gefährden, etwa dadurch, dass Informationen, die eigentlich vorhanden wären, verloren gehen. Auch kann eine Verfälschung von Daten dazu führen, dass Patienten geschädigt werden.
Aus meiner Sicht ist es etwa schwerwiegend, wenn Einträge nicht korrigiert werden können. Die Gematik hat eine Einschränkung vorgenommen, die besagt, dass nur der Urheber eines Eintrags diesen auch korrigieren darf. Das ist eigentlich Wahnsinn, dass ein anderer behandelnder Arzt, dem der Fehler auffällt, das nicht darf. Dies wird dann später Problemebereiten, eine Korrektur vornehmen zu lassen, etwa wenn der fehlerhafte Beitrag am Urlaubsort des Patienten entstand und die Zugangsberechtigung des dortigen Arztes auf die ePA abgelaufen ist. Oder wenn die Praxis inzwischen aufgelöst wurde oder sich die Zusammensetzung einer Gemeinschaftspraxis ändert. Letzteres führt etwa dazu, dass die Praxis eine neue Kennnummer bekommt (Telematik-ID, kurz TID). Die Gematik prüft aber die Änderungserlaubnis anhand dieser Kennnummer.
Ein weiteres Beispiel für ein schwerwiegendes Problem ist etwa, dass die Daten eines „falschen“ Patienten mit einer anderen Krankenversicherungsnummer als die des ePA-Kontos vom System ohne Fehlermeldung aufgenommen werden.
Wie schnell würden sich die von Ihnen angeführten Probleme lösen lassen? Wenn man das denn wollen würde…
Die meisten Probleme könnten aus technischer Sicht leicht geheilt werden. Funktionen, die vielleicht nicht zwingend zu Beginn gebraucht werden, wie die unvollständig geregelte Verlinkung zwischen eML- und eMP-Einträgen, kann man zur Not erstmal weglassen und sich dann mehr Zeit für die Korrektur nehmen.
Ich glaube schon, dass man, wenn gewünscht, recht zeitnah eine korrigierte Fassung erzeugen kann, die umsetzbar ist und die dann draußen im Feld für die Leistungserbringer auch funktioniert. Für eine solche finale Spezifikation, die also wirklich den Endzustand beschreibt, würden ohne Komplikationen vermutlich zwei bis drei Monate intensiver Arbeit notwendig sein, bei den notwendigen Abstimmungsprozessen mit allen Stakeholdern der gematik aber sicherlich deutlich länger. Die Gematik will die Spezifikation aber bereits in vier Wochen finalisieren.
Das wird nach meiner Einschätzung dazu führen, dass nur noch Kleinigkeiten korrigiert werden können. Korrekturen, die größere Diskussionen erfordern, werden aufgrund der fehlenden Zeit nicht erfolgen. Deswegen erwarte ich leider, dass auch die „finale“ Spezifikation der Gematik immer noch mannigfaltige Fehler enthalten wird, die bei der Umsetzung Probleme machen werden. Was davon dann während der Umsetzung durch die Industrie bis zum geplanten Produktivbetrieb zum 15.07.25 behoben werden kann, wird man sehen müssen.
Woran liegt es, dass die Gematik solche fehlerbehafteten Spezifikationen abliefert?
Zunächst einmal muss ich sagen, dass keine Spezifikation perfekt ist und sein kann. Sie wird bis zum Veröffentlichungstag kontinuierlich fortgeschrieben werden müssen. Das ist okay und auch normal. Was nicht normal ist, dass substanziell große Brocken drin sind, die eine Umsetzung eigentlich verhindern und man dann diese Fassung als final und damit als umsetzungsbereit erklären will.
Das ist aus meiner Sicht allerdings eher politisch getrieben. Die Politik will den Stichtag 15. Juli 2025 halten. Die Kassen und die Hersteller brauchen aber mindestens ein Jahr Vorlaufzeit. Also muss die Spezifikation offiziell im Juli – spätestens im August – fertig sein. Damit hat die Gematik ihre Bringschuld formal erfüllt. Wenn es dann bei der Umsetzung zu Schwierigkeiten kommt, dann wird die Verantwortung dafür hin und her geschoben. Die Gematik kann dann damit argumentieren, sie habe die Frist eingehalten. Die Kassen und die Hersteller wiederum können – vollkommen zu Recht in diesem Fall – darauf hinweisen, dass die Spezifikation schlicht nicht umsetzbar war. Dieses Spielchen haben wir in der Vergangenheit leider häufiger erlebt.
Sie sagen also, die Fristen, die die Politik gesetzt hat, sind zu kurz?
Eindeutig. Die Gematik ist personell massiv unterbesetzt für die Aufgaben, die ihr zugewiesen werden. Außerdem muss sich die Gematik mit vielen Stakeholdern abstimmen und koordinieren. Das braucht wirklich viel Zeit. Trotzdem hat die Politik Fristen gesetzt, die objektiv zu kurz waren, um den Druck hochzuhalten, damit es dann nicht noch mal länger dauert.
Was kann man jetzt noch tun? Den Starttermin für die Version 3.1. doch noch verschieben?
Ja, das wäre eine Möglichkeit und eigentlich auch dringend geboten. Ich halte dies jedoch für eher unwahrscheinlich, denn die Politik will den Termin unbedingt halten. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Gematik ihre Spezifikation im August formal veröffentlichen wird. Und im schlimmsten Fall – und das ist ja nun leider nichts Neues – wird das eben zum 15.07. im Feld nicht funktionieren. Der Termin wäre erreicht, auch wenn die Systeme beim Start nicht sinnvoll nutzbar sind. Aber man kann dann ja wieder auf die Industrie schimpfen, die ja „immer schlechte Produkte“ liefert.
Mark Langguth studierte an der Fachhochschule Darmstadt Informatik und arbeitete anschließend im IT-Bereich. Seit 2003 ist er im eHealth-Bereich tätig. Fast 13 Jahre lang war er für die Gematik als Leiter der Abteilungen Spezifikation sowie Produktmanagement tätig. Dort fungierte er u. a. als Gesamt-Fachverantwortlicher für die elektronische Patientenakte (ePA). Seit 2019 unterstützt Langguth Organisationen und Unternehmen beratend sowie projektbegleitend in eHealth-Fragen. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in den Bereichen Telematikinfrastruktur (TI) sowie TI-Anwendungen, etwa ePA und eRezept sowie bei Kommunikationslösungen wie KIM und TIM.